Gegen rechte Gewalt

Rede in der St. Ansgar Kirche am 23.02.2012
im Gedenken an die Opfer des Neonaziterrors durch die terroristische Gruppierung NSU

Kein rechter, rechter Platz ist frei!Lieber Pastor Hinne,
liebe Kirchengemeinde,
liebe Mitglieder des Bündnisses gegen Rechts,
liebe Gäste,

zum ersten Mal stehe ich in einer Kirche vor den Menschen, anstatt neben ihnen zu sitzen und ihnen zuzuhören. Eine Kirche bietet den Raum innezuhalten, den anstrengenden Arbeitsalltag zu unterbrechen, um Gedanken fließen zu lassen und Fragen zu stellen. Oft gehen wir zurück nach Hause ohne eine Antwort auf die Fragen gefunden zu haben, aber mit dem Gefühl, dass wir in einer Gemeinschaft leben, die uns die Kraft und den Glauben an etwas vermittelt, was wir Hoffnung und Zuversicht nennen. Ich bin nicht sehr geübt darin, mit meiner Sprache auf die philosophischen Fragen einzugehen, die sich stellen, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen, danach, ob der Mensch an sich ein friedliches Wesen ist oder, wie der Staatstheoretiker Hobbes es ausdrückte, der Mensch dem Menschen ein Wolf ist.

Von 1996 bis 2011 schändeten Uwe B., Uwe M. und Beate Z. jüdische Friedhöfe, bauten Rohrbomben, überfielen 14 Banken, schlugen und bedrohten Mitmenschen und richteten über andere. Wir gedenken heute der 10 Opfer, die sie hinrichteten, weil sie Ausländer oder Polizisten waren. Ist der Mensch dem Mensch ein Wolf? Oder lassen wir es zu, dass in unserer Gesellschaft aus Menschen Wölfe werden? Ich selbst bin zutiefst davon überzeugt, dass niemand böse und menschenverachtend geboren wird. Ich bin auch davon überzeugt, dass die Gesellschaft, und mit ihr meine ich in einer Demokratie selbstverständlich auch den Staat an sich, die Verhältnisse für alle Menschen so gestalten muss, dass niemand aufgrund seiner Hautfarbe, seines Einkommens oder seines Glaubens diskriminiert werden darf. Doch diese Gesellschaft orientiert sich nach meinem Dafürhalten an Werten, die eben nicht geeignet sind, dass Mitmenschlichkeit, Sensibilität und Verständnis füreinander entwickelt und weiterhin gepflegt werden.
Geldwertoptimierung, Wachstum auf Kosten der Ressourcen und menschlicher Leistungsfähigkeit, Konkurrenz, Leistungsdruck, Hektik sind zu Maximen unseres Lebensentwurfes geworden.

2006 veröffentlichte die Friedrich-Ebert-Stiftung ihre Studie „Vom Rand zur Mitte“: 40% aller Bundesbürger meinten damals, dass die Bundesrepublik gefährlich überfremdet sei, 26% wollten eine einzige Partei, die die Volksgemeinschaft vertritt und 14% meinten, dass Juden etwas Eigentümliches an sich hätten und nicht so recht zu uns passten. Anknüpfend an diese repräsentative Studie stellten die Forscher zwei Jahre später, 2008, fest, dass rechtes bis rechtsextremes Gedankengut sich etabliert habe und sich keineswegs am Rande der Gesellschaft bewege. Ausländerfeindlichkeit ist heute in allen sozialen Bildungs- und Berufsgruppen vertreten.

Durch alle Altersgruppen unseres gesellschaftlichen Querschnitts schwappt Sympathie für Neonazis. Campino von den „Toten Hosen“ sagt, dass man es schaffen müsse, „jungen Neonazis das sich von ihnen erschlichene und fast schon zur Romantik verklärte Image vom toughen, harten, einsamen Kämpfer gegen das Establishment zu nehmen und sie endlich als das hinzustellen, was sie wirklich sind: Dumme, kleingeistige, feige und asoziale Elemente unserer Gesellschaft.“ Damit kriegen wir sie aber nicht weg, damit verhindern wir nicht, dass sich in ihren Köpfen weiterhin dieses menschenverachtende und zutiefst undemokratische Agieren ausbreitet.

„Immer dann, wenn der Wohlstand als Plombe bröckelt, steigen aus dem Hohlraum wieder antidemokratische Traditionen auf“, sagen Elmar Brähler und Oliver Decker von der Uni Leipzig. „Erschreckend war für uns, wie gern die Befragten auch die bescheidenste Demokratie gegen autoritäre Strukturen eintauschen würden.“ Für die meisten der Befragten sei Demokratie eine elitär betriebene Sache, die Menschen fühlten sich nur als Objekte und Wahlen seien unbedeutend. Demokratie werde nur geschätzt, wenn sie Wohlstand bringe.

Schauen wir uns diesen Wohlstand einmal genauer an.

Die Bundesregierung hat am 15. Februar 2012 folgende Zahlen veröffentlicht: Lediglich 10 Prozent dieser Bevölkerung verfügen über 61 % des gesamten Nettovermögens Deutschlands, das sind sechseinhalb Billionen Euro – was den Staatsschulden von 14 aller 27 EU-Länder entspricht. Oder anders: 10 Prozent der Menschen dieses Landes verfügen über ein Vermögen, das dem Doppelten der Staatsschulden von Italien, Spanien, Irland, Portugal und Griechenland zusammen entspricht. Oder: In Deutschland verfügen 8 Millionen Menschen über sechseinhalb Billionen Euro. Sie besitzen dreimal so viel wie dieses Land Schulden hat. Tendenziell steigt ihr Vermögen.

40% der Menschen in diesem Land haben 5 – 20% des Nettovermögens, Tendenz sinkend. Die Hälfte der Bundesbürger hat weniger als 5% bis gar keinen Anteil daran. Tendenz sinkend. Diese Menschen schuften für wenig Lohn und erleben, dass ihr Protest gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen und den Verlust des Arbeitsplatzes bedeuten kann.

Wochenendarbeit ist normal geworden, Ausnahmeregelungen des Arbeitsrechts schaffen mehr Möglichkeiten für Arbeitgeber, als für Arbeitnehmer. Besonders hart trifft es Alleinerziehende und ihre Kinder. In einer destabilisierten und ungleichen Gesellschaft erstarken Neid, Dummheit. Plumpe Überzeugungen und Minderwertigkeitsgefühle werden auf der Suche nach Identifikation mit dem Halt in einer autoritären und gewaltbereiten Gruppe kompensiert. Auch unser mehrgliedriges Schulsystem gerät bei der Suche nach Ursachen in die Kritik. Es ist maßgeblich mitverantwortlich für soziale Abgrenzung und Milieubildung.

„Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir widerspruchslos hinnehmen.“ Im Sinne Schopenhauers wünsche ich mir, dass wir diese Widersprüche aufdecken und für eine solidarische Gesellschaft zusammenstehen, in der es allen Kindern möglich ist, in Geborgenheit aufzuwachsen, zur Schule zu gehen, ohne dafür bestraft zu werden, aus welchen Verhältnissen sie kommen. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der wir zugunsten gemeinschaftlicher Lebensformen und der Gesellschaft Egoismen überwinden und den Mut aufbringen uns schützend vor andere stellen.